Freitag, 24. Juni 2011

Besuch im Dschungel

Finca Tatín, Rio Dulce, 2. bis 6. Juni 2011

Meine Augen öffnen sich; ich sehe nichts. Absolute Finsternis, keine Straßenlampe scheint am Fluss, kein Mond leuchtet durch die Zweige der Bäume über unserer Hütte. Ich höre Schreie von Vögeln. Lange, getragene Laute, zwischen den Bäumen, deren dichte Dächer einen Hall-Raum bilden. Der Hall ist etwa so gut wie in einem leeren Konzertsaal. Eine guter Klang: er wird getragen unter den Kronen der Bäume und gleichzeitig vom Blattwerk gedämpft.

Ich nehme die Taschenlampe, schleiche mich vorsichtig aus dem Bett und gehe, die Treppenstufen beleuchtend, nach unten, raus aus der Hütte und die sieben Meter zum Fluss.

Über dem Tatín dämmert es schon. Ein Kanu fährt gerade vorbei, völlig lautlos. Zwei junge Frauen sitzen darin. Ich grüße, sie nicken mit dem Kopf. Sie fahren flussaufwärts. Dort ist eine Schule, wo Entwicklungshelfer und auch Freiwillige arbeiten. Die Frauen aus den Dörfern holen dort ein paar Jahre Schule nach und lernen, im Tourismus zu arbeiten. Ak‘denamit heißt der Verein.

Ich steige in den Fluss und schwimme in die Mitte. Merkwürdig: Oben, bei meinen Schultern ist das Wasser kühl. Unten, wo die Füße sind, ist es warm wie in einer Badewanne. Ich tauche zwei Meter tief und treffe auch herrlich warmes Wasser. An mehreren Stellen kommt heißes Wasser aus dem Boden des Flusses. Wenn Bewegung ist, mischt es sich, und der ganze Fluss erscheint warm zu sein. Ich habe mich nach dem Bad zum Lesen auf die Hängematte, die zwischen Steg und Fluss an zwei Bäume hängt, gelegt. Da kommen zwei Motor-Kähne vorbei. Auf jedem Kahn zwanzig junge Frauen in traditioneller Kleidung. Ich grüße, sie winken kaum, grüßen wenig. Sprechen sie kein Spanisch?

Wir wohnen in der Finca Tatín, und Enzo spielt dort das Äffchen. Er springt weit schwingend an einem langen Seil ins Wasser, schlägt dabei Saltos und macht wilde Tiere nach. Oder er hockt auf allen Vieren auf dem Steg und ist ein Hund. Laurenz hat vor echten Hunden Angst, vor Enzo nicht. Enzo macht für Laurenz den Therapeuten. Manchmal schimpft sein Vater Carlos mit ihm, weil Enzo keine Angst vor nichts hat. Der Junge des Chefs ist 11 Jahre alt und geht in Nebraska zur Schule, aber vier Monate im Jahr ist er im Dschungel-Hotel seines Vaters. Ob ihn seine Mitschüler in den USA darum beneiden?

An einem Tag gehen wir morgens zu den Paddelbooten. Sonnenmilch, Schirmmützen, Wasserflaschen, etwas Geld, Handtücher – alles dabei. Wir paddeln stromabwärts, den Tatín bis zum Rio Dulce, dann Richtung Meer. Haltet euch immer links, hatte Carlos gesagt. Links, da werden die Felswände immer höher, manchmal sind unten kleine Öffnungen im Fels, in einer hätte ich mich mit dem Boot gut verstecken können. Bäume mit Lianen und Felsen geben uns Schatten. Ab und zu stößt ein Vogel aus dem Dickicht, andere wiederum bleiben gelassen sitzen. Wir singen Wanderlieder, wir kommen gut voran. Die Sonne sticht trotzdem unbarmherzig.

Da, plötzlich ist vorn keine weitere Windung des Flusses zu sehen, sondern das Meer! Sei gegrüßt, Karibik! Jetzt fahren wir nicht mehr an Felswänden, sondern an Häuser- und Schiffswänden vorbei; ab und zu ist es auch ein Wrack. Immer links, wir steuern Livingstone an. Unsere Paddelboote lassen wir im „Bugamama“, vermutlich dem besten Restaurant. Wir wandern bei sengender Hitze durch den Ort.

Livingston/ ciudad porteña/ eres la dueña /de mi canción.

Livingston/ son tus morenas/ lindas sirenas/ que vierte el mar. - Livingston, Hafenstadt, du beherrscht mein Lied. Livingstone, deine Mulattinnen, schöne Meerjungfrauen, die das Meer anschwemmt…

Wir haben sie nicht gesehen. Entweder gingen sie gerade zur Schule von Ak’denamit oder reiche Nordamerikaner hatten sie von hier weggeheiratet. Im heißen Livingston fanden wir viele arme Männer, die am Hafen saßen und auf irgendetwas warteten. Wir fanden ältere Frauen, die mit stolzem Gang und Kleidern aus den 50er Jahren die Straße entlanggingen; sie hatten wohl bessere Zeiten von Livingston erlebt.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Sich qualifizieren

"Eher hört die Gewalt in Guatemala auf, als dass wir uns für eine Fußball-Weltmeisterschaft qualifizieren“, ist eine der populären Kamel-Nadelöhr-Variationen hier im Land. Schon am 2. Tag des Sprachunterrichts hatte mir mein Lehrer (32 Jahre alt) gesagt, er hoffe, eine Qualifikation würde noch vor seinem Tode stattfinden. Zugegeben, die CONCACAF (Nord- und Zentralamerikanische und karibische Fußballkonföderation) ist nicht die leichteste Gruppe, denn es kommen normalerweise nur drei Mannschaften weiter, wobei die USA und Mexiko quasi gesetzt sind. Aber Honduras konnte es auch und Costa Rica. 2006 sogar Trinidad & Tobago!
Warum qualifiziert sich das Fußball-Land Guatemala nicht? Im Zweifelsfall lässt sich immer alles mit Korruption erklären. „Ach der mit den langen Haaren – so wie der den Ball neben das Netz gesetzt hat – den haben sie doch gekauft.“ Man fühlt sich ein bisschen in die DDR zurück versetzt und freut sich über die Sicherheit, mit der sich die deutsche Mannschaft immer wieder für alles qualifiziert.

Der Politiker Manuel Baldizón, ein relativ ernstzunehmender noch dazu, versprach Anfang März bei einer Wahlveranstaltung vor tausenden von Jugendlichen: „Wenn ich Präsident werde, wird sich Guatemala für die Fußball-WM qualifizieren.“ Ach, war das herrlich. Man sah noch tagelang Leute kopfschüttelnd mit Tränen in den Augen vor Lachen in ihren Autos sitzen. An was für verrückte Versprechen hatte man sich schon gewöhnt: "Arbeit für Alle", "Wohlstand für Alle". Und immer wieder ein "Ende der Gewalt". So mancher begann zum ersten Mal über den Sinn von Wahlkampfversprechen nachzudenken.

Eines Nachts Anfang April, wir wollten gerade ins Bett gehen, hörten wir einzelnes Gehupe am nahegelegenen „Obelisco“, einem der Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Innerhalb von wenigen Minuten schwoll es zu einem tausendstimmigen Hupkonzert an. „Klingt wie Deutschland-England 2010 am Kudamm.“ Laptop auf, Zeitung online aufgeschlagen: soeben hatte sich die U-20-Mannschaft Guatemalas durch einen 2:1-Sieg gegen die USA für die Junioren-Fußball-WM qualifiziert. Die Reaktion hätte nicht gewaltiger sein können, wenn es die Alten gewesen wären. Stundenlang bis in den frühen Morgen zogen die Autos hupend um den Kreisverkehr, das Thema bestimmte die Titelseiten für mehrere Tage.

Am Tage der Auslosung dann für uns die Überraschung: Wann kommt das Los mit der deutschen Mannschaft? Wird sie gegen Guatemala spielen? Wie jetzt --- nein, das letzte Los war auch nicht "Deutschland". Deutschland hatte sich einfach nicht qualifiziert.

Anfang Juni wurde die bedeutendste Zeitung Guatemalas 60 Jahre alt. Sie schaltete eine Werbeplakat-Serie mit Fotos von Leuten und der wiederkehrenden Aussage „Mit Prensa Libre erlebte ich…“ und dann abwechselnd –
„... die Landung auf dem Mond“,
„... den Einsturz des World Trade Centers“,
„... die Unterschrift unter das Freihandelsabkommen“
– und natürlich „... die Qualifikation der Sub-20 für die Fußball-WM“.

O-Ton Qualifikation, letzte Sekunden des Spiels

Dienstag, 14. Juni 2011

Mexikahlo

Ungefähr alle 10 Jahre taucht die Malerin Frida Kahlo unerwartet in unserem Leben auf und wirft Wellen. Kurz nach der Wende, Hand-in-Hand mit Tina Modotti, der revolutionären Fotografin, die ihre Kamera in die Moskwa geworfen hatte. Und dann 2002, als Selma Hayak verkleidet, sprechend, lebendig und leidend im Kino. Schließlich, im letzten Monat, auf der Pfarrkonferenz der lateinamerikanischen deutschsprachigen Gemeinden. Die fand in Mexiko-City statt und ging 9 Tage von Sonntag bis Montag. Der Besuch des Frida-Kahlo-Museums war am 7. Tag. Die Konferenz war toll und hätte andere Namen verdient, wäre da nicht dieser 7. Tag gewesen.

Der treffendste Name wäre „Volkswagen-Konferenz“ gewesen, denn VW sponserte nicht nur drei schwindelerregende Abendessen für die 40 Teilnehmer, sie zeigten uns auch ihr Werk in Puebla, das jeden Tag mehr als 2400 Autos produziert (VW Jetta). Die Hässlichkeit dieses Autos steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der Lieblichkeit der Restaurants, die man mit ihrem Umsatz bezahlen kann.
Man hätte sie auch „Führungs-Konferenz“ nennen können, denn das offizielle Thema war „Führen und Leiten in der Gemeinde“ und wurde mithilfe eines Beraters aus Deutschland besprochen.

Aber nein, was am Ende blieb und uns am deutlichsten mit nach Guate begleitete war Frida Kahlo. Besser gesagt waren Frida Kahlo und ihr Mann Diego Rivera. Dessen riesige Wandgemälde im Präsidentenpalast konnten wir schon am 4. Tag bewundern. (Da fällt mir ein, dass wir dank des tollen Programms die Konferenz auch „Studiosus-Konferenz“ hätten nennen können.) Aber zurück zu Frida und zum 7. Tag: „Besuch des Frida-Kahlo-Museums“ stand im Programm. Ich stellte mir einen sympathisch-betonlastigen Kunsthallen-Klotz aus den 80er Jahren im Stadtzentrum vor. Stattdessen fuhr uns ein Linienbus in ein verträumtes kleines Stadtviertel mit vielen eingeschossigen Wohnhäusern. Eines davon war blau und leuchtete von weitem. Es war tatsächlich das Wohnhaus von Frida und Diego.

Nicht viele von uns hatten das Angebot wahrgenommen und auch sonst war alles ruhig im schattigen Innenhof an diesem Morgen und es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, die Hausherren würden jeden Moment aus einem Fenster schauen oder ein Glas aus einem der gelben Regale nehmen und sich gegenseitig an den Kopf werfen.
Aber ach, sie sind seit über 50 Jahren tot und ihre Bilder hängen hier auch nicht – jedenfalls nicht die bedeutendsten. Die reisen in der Welt herum und sorgen für Jahrhundertschlangen, wie etwa vorm Martin-Gropius-Bau.

Trotzdem waren sie da – in der gigantischen Küche, die so manchen marxistischen Theoretiker mitbekochen musste, in den ausgefallenen Korbsesseln, die sie wahrscheinlich nach ausgedehntem Streit ausgesucht hatten. Oder waren das einfach nur die einzigen Stühle, in den Frida bequem sitzen konnte? Und in dem Blau, das so blau war, wie unser Haus in Almería. (Und das Haus von Pablo Neruda in Santiago.)

Der kleine Museumsshop in der alten Bodega versorgte uns mit Bleistiften, Klappspiegeln und hochwertigen Drucken. Die „Frida-Kahlo-Konferenz“ geht jetzt bei uns zuhause in Guatemala noch ein bisschen weiter. Mal sehen, was in 10 Jahren los ist.